Ali und Mohammad - eine Ankunft im Erzgebirge
Annaberg-Buchholz. Für Ali und Mohammad trägt das Schicksal Polizeiuniform. Im Iran in der Provinz Teheran, wo beide lebten, ohne sich zu kennen, wurden ihre Familien und sie selbst von der Ortspolizei schikaniert. Kurz vor Weihnachten 2015 ging jeder für sich, fünfzehnjährig, auf den Weg in die Berge, mit zwielichtigen Führern auf abgründigen Straßen, voller Angst und voller Hoffnung, den Blick nach vorn. In der Türkei griff die Polizei sie auf, hielt sie eine Weile fest. Das brachte sie zusammen.
Gemeinsam setzten Ali und Mohammad den Weg über das griechische Meer und auf der Balkanroute fort, nach Norden. Sie wollten nach Skandinavien, zu Bekannten. Im Bus kamen sie bis München, dort zogen Polizisten sie aus dem Verkehr. Um nicht zurückgeschickt zu werden, nach Österreich und Kroatien und die ganze Balkanroute abwärts, beantragten sie Asyl und wurden Sachsen zugeteilt.
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Nach den Monaten in der Damm-Mühle und dem Schulbesuch in Zschopau verpflichteten sich Ali und Mohammad auf ein Freiwilliges Soziales Jahr. Es sollte ihrem Leben zwei entscheidende Impulse geben: Sie machten einen Schulabschluss, und sie lernten das St. Annaheim kennen.
Das St. Annaheim ist ein Pflegeheim in Annaberg-Buchholz, an der Flanke des Pöhlbergs gelegen, eine Einrichtung der katholischen Pfarrei Heilig Kreuz. In einem lichten Neubau aus dem Jahr 2000 wohnen etwa 70 pflegebedürftige Menschen, betreut von eben so viel Personal. Ali und Mohammad arbeiteten in ihrem zweijährigen Sozialen Jahr (Projekt FSJ-plus) jede Woche drei Tage lang in diesem Heim. Zwei Tage widmeten sie sich, mit Hilfe deutscher Freunde, dem Hauptschulabschluss. Der erste Schulabschluss ihres Lebens. Auf Deutsch.
Die Hauptschulprüfung ist Voraussetzung für eine Ausbildung. Ali und Mohammad haben sie als externe Prüflinge im Erzgebirge abgelegt. Sie hatten Unterricht in Mathe und Gemeinschaftskunde, Deutsch, Englisch und Geschichte. Simone Seibt, Schulleiterin der Oberschule Jöhstadt, sagt: "Mohammad schaffte seine Prüfungen mit Bravour. Er war freundlich, zuvorkommend, sehr fleißig. Er kannte unsere Schule nicht, aber wie er hier agierte, hat mich und meine Kollegen sehr beeindruckt. Es wäre schade, wenn junge Leute wie er hier bei uns keine Zukunft hätten."
Katrin Becher, Schulleiterin der Oberschule Sehmatal: "Ali ist definitiv ein Vorzeigebeispiel, ich zolle Bewunderung für seine Leistung. Er war ausgesprochen freundlich, höflich, ein überaus fleißiger und aufmerksamer Zuhörer. Ich brauche alle positiven Adjektive. Und ich drücke wahnsinnig die Daumen, dass er bleiben kann. Wenn solche Menschen gehen müssen, da habe ich Bauchschmerzen."
Im St. Annaheim hat sich um Ali und Mohammad, die inzwischen in einem Annaberger Internat wohnen, ein Freundes- und Helferkreis gebildet. Sie haben eine Ausbildung zum Pflegehelfer aufgenommen. Bei den Heimbewohnern sind sie geschätzt und beliebt. Pflegedienstleiter Daniel Otto und Wohnbereichsleiterin Silke Krause sehen sie als Familienmitglieder an. Zur Aufgabe der Pflegehelfer im Heim gehören Assistenzen bei der Körperpflege und der Hauswirtschaft, die Unterstützung der geprüften Altenpfleger, die Betreuung und Behandlung der Leute in Abstimmung mit dem Fachpersonal. Die Ausbildungsdauer beträgt zwei Jahre. Gute Pflegehelfer werden händeringend gesucht.
Vor einigen Wochen haben Ali und Mohammad einen Abschiebungsbescheid erhalten. "Wir kämpfen darum, dass sie bleiben dürfen", sagt Daniel Otto, der Pflegedienstleiter. "Wir wollen sie als geschätzte Kollegen, Pfleger, Freunde, Familienmitglieder nicht wieder verlieren. Eine Abschiebung kann für sie den Tod bedeuten!" Silke Krause hat eine Petition an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, den Petitionsausschuss des Bundestages und den Sächsischen Ausländerbeauftragten ins Internet gestellt. Fast 40.000 Menschen haben unterschrieben. Geert Mackenrodt, Sachsens Ausländerbeauftragter, hat angekündigt, Ali und Mohammad im St. Annaheim besuchen zu wollen. Die Hoffnungen ruhen nun auf der Härtefallkommission.
Daniel Otto glaubt, dass Deutschland reicher und besser werde, wenn es den "Schatz" der integrierten Flüchtlinge hebt. "Wir brauchen Menschen in vielen Berufen, die Flüchtlinge brauchen eine Perspektive. Für mich ist das eine Situation, in der alle gewinnen!" Silke Krause sagt: "Ich finde es zutiefst beschämend, wie unser Land reagiert, das junge Menschen bewusst in ein Kriegsland zurückschickt, ohne zu schauen, wie sie sich integrieren. Wo sind die christlichen Werte? Das beschäftigt mich sehr."
Was du dem Nächsten verdenkst, tue selbst auch nicht - Kants moralischer Imperativ hatte einen Vorläufer in Pittakos von Mytilene, von dem dieser Ausspruch stammt. In der griechischen Hafenstadt Mytilene haben Ali und Mohammad zum ersten Mal europäischen Boden betreten. Ein Schlauchboot mit Benzinmotor, 40 Menschen, hoffnungslos überladen, kein Begleiter, drei oder vier Stunden auf dem spukhaften Meer. Bei einem früheren Versuch war das Boot umgekippt.
"Wir wollen kein Mitleid", sagt Mohammad. Nur Anerkennung für ihre Bemühungen, ihre Arbeit, und eine ehrliche Chance.
Quelle: Freie Presse vom 16.02.2019, Ronny Schilder